Altkanzler Schröder: Ich habe „gegen das Völkerrecht verstoßen“ (14:06)

Lesezeit ca. 5 Min.

Inhalt

Deutscher Verstoß gegen das Völkerrecht

ZEIT-Matinee mit Gerhard Schröder vom 09.03.2014

Abstract

Ex-Bundeskanzler Gerhard Schröder äußert sich kritisch zur Position der EU im Ukraine-Konflikt.

Er gibt außerdem zu, mit der Beteiligung am Kosovo-Krieg selbst „formal“ gegen das Völkerrecht verstoßen zu haben.

Auch Josef Joffe (Redakteur und Herausgeber der Zeit) kommt hier als sich intensiv beteiligender Moderator zu Wort.

Beschreibung (Teil-Transkription)

2:34 Schröder (bezogen auf den Ukraine-Konflikt): „Wo liegen eigentlich die Ursache für die Krise? War es wirklich richtig herzugehen und die Ukraine, ein kulturell gespaltenes Land – das muss man entgegen allen Mainstream ja wohl mal sagen dürfen – ein kulturell gespaltenes Land, nämlich im Westen … eine eher .. europäisch orientierte Bevölkerung, die im Übrigen auch in großen Teilen nationalistisch ist, was sie in dem Sprachenstreit auch sehen können und im Osten und im Süden, speziell auf der Krim eine traditionell russisch denkende und fühlende Bevölkerung … War es richtig, dass die EU sagt: Wir stellen euch vor die Alternative: Entweder Assoziierung in der EU oder Teilnahme an der Zollunion, … die die russische Föderation mit anderen in der Lage und auch bereit ist aufzubauen.“

3:34 Schröder: „Ich finde, dass die EU angesichts der … kulturellen Teilung der Ukraine dieses Entweder-Oder nicht hätte formulieren dürfen, sondern da wäre sehr viel vernünftiger gewesen ein Sowohl-als-auch.“

4:04 Schröder: „Es wäre besser gewesen, wenn man über Assoziierung mit beiden verhandelt hätte, über Assozierung mit Russland ebenso wie mit der Ukraine. Man hätte viele Stolpersteine nicht gehabt.“

6:33 Schröder: „Natürlich ist das, was auf der Krim geschieht, etwas, was auch Verstoß gegen das Völkerrecht ist. Aber wissen Sie, warum ich ein bisschen vorsichtiger bin mit dem erhobenem Zeigefinger? Das will ich Ihnen gerade in einer solchen Veranstaltung sagen. Weil ich es nämlich selbst gemacht habe.

Joffe: „Was haben Sie gemacht?“

Schröder: „Gegen das Völkerrecht verstoßen.

7:08 Schröder: „Als es um die Frage … ging, wie entwickelt sich das in der Republik Jugoslawien – Kosovo-Krieg – da haben wir unsere Flugzeuge, unsere Tornados nach Serbien geschickt und die haben zusammen mit der NATO einen souveränen Staat gebombt, ohne des es einen Sicherheitsratsbeschluss gegeben hätte„.

7:52 Schröder: „Ich stehe trotzdem dazu. Ich hab noch vor Augen die Flüchtlingsströme und das, was drohte, gar keine Frage. Formal aber, ohne Sicherheitsratsbeschluss eine kriegerische Auseinandersetzung führen, war ein Verstoß gegen das Völkerrecht.“

8:16 Schröder: „Ebenso, Herr Joffe, ich habe wenig gehört an Kritik, als es im Irak so war.

8:40 Joffe: „Darf ich mit meinem etwas unterwürfigen Unterton anmelden, dass die Situation nicht ganz vergleichbar ist.“ „Sie haben damals, völlig zu Recht wie Sie sagen, ohne UN-Beschluss ein Land attackiert, aber aus sehr humanitären Gründen, die Sie auch selber beschrieben haben. Und die humanitäre Pflicht hat – so jedenfalls könnte man zumindest argumentieren – … über das Völkerrecht triumphiert.“ „Hier [Anm.: auf der Krim] gab es keine schützenswürdige Minderheit, die geschützt werden musste.“

9:40 Schröder: „Ich glaube, dass das, was wir gegenwärtig erleben auf der Krim, dass die Blaupause dafür der Kosovo ist, und zwar in doppelter Hinsicht.“

10:00 Schröder: „Aber ich sage Ihnen auch, dass wenn Sie sich die Argumentation anhören, es sich jedenfalls nicht bezweifeln lässt, …, dass formal in beiden Fällen gegen die Charta verstoßen worden ist.

10:55 Joffe: „Ich wünsche mir nur, dass dann auch Kollege Putin genauso vorsichtig wie Sie jetzt argumentiert, denn er hat im Falle Syrien, wo es wirklich ein humanitäres Desaster war und bleibt, strikt pro Völkerrecht, ‚das dürfen wir nicht‘, ‚keine Intervention‘. Und dann dreht er sich um und zettelt den zweiten Krim-Krieg an.

[Anm.: Geschichts-Kenntnisse??? Allein vom 16. Jahrhundert bis zum 1. Weltkrieg gab es schon 12 Krim-Kriege. Außerdem: von welchem Krim-Krieg spricht er? Meint er das Referendum?]

12:17 Schröder: „Ich habe nur gesagt, Kosovo könnte die Blaupause sein, übrigens auch in einer anderen Dimension, nämlich was die Frage angeht: Referendum oder nicht.“ „Es wird ja gesagt, das Abhalten des Referendums ist problematisch, ist illegal.“ „Ich hab mich mal ein bisschen versucht, kundig zu machen bei Völkerrechtlern und ich habe einen gefunden, der sich dazu geäußert hat.“ „Da steht: ‚Der Kosovo durfte sich von Serbien abspalten, sagt der Internationale Gerichtshof in Den Haag‘. Und dann geht’s weiter: ‚Die Richter waren allerdings schlau: Sie haben nur gesagt das Völkerrecht kenne kein Verbot von Unabhängigkeitserklärungen‘. Das ist der Völkerrechtler Josef Joffe 26.07.2010.

Bewertung

Außergewöhnliches Interview, in der eine Sicht des Altkanzlers Schröder abseits vom Mainstream zum Vorschein kommt. Es zeigt komprimiert, mit welcher Doppelmoral wir Situationen beurteilen. Lt. eigener Aussage hat Schröder selbst das Völkerrecht gebrochen, das jedoch immer wieder dann hervorgeholt wird, wenn es darum geht, unliebsame Gegner zu beurteilen.

Schön auch, wie Schröder Josef Joffe mit seinem eigenen Zitat vorführt.

Aus meiner Sicht sind 5 Sterne in jedem Fall gerechtfertigt.

Erkenntnisse

Schröder hält genau wie ich, das Vorgehen der EU für falsch, ein kulturell gespaltenes Land wie die Ukraine mit dem Assoziierungsabkommen vor eine Entweder-Oder-Entscheidung zu stellen. Davon hört man in den Leitmedien sehr wenig. Stattdessen ist fast immer nur von einer einseitigen Aggression Putins die Rede.

Schröder gibt zu, selbst gegen das Völkerrecht verstoßen zu haben und dass das Referendum der Krim formal das Gleiche ist, wie damals das Referendum im Kosovo zur Abspaltung von Serbien.

Leider sagt er auch, dass er zu der Entscheidung stehe und dass es gewissermaßen zu der Zeit nicht anders möglich gewesen wäre. Was er nicht sagt (genauso wenig wie seine Kollegen Scharping und Fischer) ist, dass es vor Eingreifen der NATO gar keine humanitäre Krise gegeben hat. Stattdessen lief eine massive Propaganda in Deutschland, die die Bevölkerung hinter das Bundeswehrangagement bringen sollte. Sehr gut nachgezeichnet in der Reportage: Es begann mit einer Lüge“ – Doku über NATO-Einsatz in Jugoslawien, ARD 2001‬‏.

Josef Joffe kannte ich bisher nur aus einer Folge von „Der Anstalt (ZDF)“, in der es um die intensiven Verflechtungen führender Redakteure mit transatlantischen und NATO-freundlichen Think Tanks ging. Joffe erwirkte gegen das ZDF eine einstweilige Verfügung, sodass dieser Beitrag aus der Mediathek entfernt werden musste. Später wurde seine Klage vom Hamburger Landgericht abgewiesen.

Für mich zeigt sich die Position Joffes in diesem kurzen Video deutlich. Erstaunlich mit welcher Leichtigkeit er das Völkerrecht beiseite wischt, weil die Fälle Kosovo und Krim seiner Meinung nach absolut nicht miteinander vergleichbar seien.

Angesichts seiner intensiven Verflechtungen mit den internationalen Eliten in allen großen, umstrittenen Denkfabriken und Foren (Trilaterale Kommission, International Institute for Strategic Studies, American Council on Germany, Atlantik-Brücke, Aspen Institute for Contemporary German Studies, Council on Public Poicy, Münchender Sicherheitskonferenz, Bilderberger, Weltwirtschaftsforum [1]) dürfte er auf Grund Schröders Aussagen mächtig ins Schwitzen gekommen sein.

Fazit

Einerseits großartig, in welcher klaren Art und Weise Schröder Dinge anspricht, die in den Leitmedien mehr oder weniger tabu sind. Trotzdem frage ich mich, warum für den Völkerrechtsbruch niemand rechtlich belangt wird?

Aus deutscher Sicht sind für mich Schröder, Fischer, Scharping und alle damals verantwortlichen Politiker schlicht mutmaßliche Kriegsverbrecher.

Wenn wir den wichtigsten internationalen Rahmen, der den weltweiten Frieden und die Wahrung der Menschnrechte gewährleisten soll, nicht ernst nehmen und einen Bruch desselben nicht ahnden, verlieren wir die einzige Grundlage, die tatsächlich zu einer friedvolleren Welt hätte führen können.

Der Begriff der „humanitären Intervention“ ist rechtlich ganz sicher genauso wenig definiert wie der „Krieg gegen den Terror“ und öffnet der Willkür Tür und Tor. Wie können wir uns anmaßen, Putin bzw. Russland auf Basis dieser UN-Charta zu verurteilen, wenn wir uns selbst nicht an diese gebunden fühlen?

Wenn Menschen, wie Josef Joffe, die in führenden Positionen von großen deutschen Zeitungen sitzen und maßgeblich den Inhalt mitbestimmen, solche Aussagen treffen („Die humanitäre Pflicht hat … über das Völkerrecht triumphiert“), beschleicht einen ein extrem ungutes Gefühl und ich kann nur hoffen, dass seine Leserschaft kritisch genug ist, um sich ein neutraleres Bild im Hinblick auf Kriegseinsätze und Sanktionen zu machen.


[1] s. Uwe Krüger: „Meinungsmacht. Der Einfluss von Eliten auf Leitmedien und Alpha-Journalisten.“, S. 137f, Köln: Halem, 2013

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